Die Ukraine hat die „Einheit der Russen“ zerstört

Warum bekriegt Wladimir Putin die Ukraine, spricht ihr gar das Existenzrecht ab?

Russlands Herrscher will die Existenz der Ukraine nicht hinnehmen, sagt Historiker Andreas Kappeler auf t-online.

Russland hat die Ukraine niemals als ebenbürtige Nation anerkannt. In seinem 2021 veröffentlichten Aufsatz „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ fasste Wladimir Putin seine Ansichten über die Ukraine ziemlich präzise zusammen: Eigentlich sei die Ukraine kein selbstständiger Staat, keine eigene Nation, sie gehöre vielmehr zu Russland.

Die Ukraine war auch in westlicher Sichtweise ein weißer Fleck, angeblich ein Land ohne eigene Kultur, Sprache und Geschichte.

Das russische national-imperiale Narrativ duldet keine Abweichungen: Wenn die Ukraine nach Unabhängigkeit strebt, stellt sie sich in Putins Weltsicht gegen Russland und die sogenannte russische Welt. Für Putin ist das ein Fall von Verrat.

Russen und Ukrainer sind insofern „Brüder“, als sie sich sprachlich, religiös und kulturell nahestehen. In ihrer Geschichte und ihren politischen Traditionen unterscheiden sie sich aber wesentlich. Im mittelalterlichen Großreich der Kiewer Rus lebten die Vorfahren der heutigen Russen, Ukrainer und Belarussen gemeinsam in einem Herrschaftsverband, Einheit stiftete dabei das orthodoxe Christentum.

Im 13. Jahrhundert fielen die Mongolen ein.

Im Nordosten entstand nach dem Zerfall der Kiewer Rus schließlich das Zartum Moskau, ein Staatswesen, das sich später zum Russländischen Imperium weiterentwickelte und im frühen 18. Jahrhundert als europäische Großmacht zu etablieren vermochte.

Die Vorfahren der Ukrainer hingegen gerieten unter die Herrschaft des Königreichs Polen-Litauen. Erst später unterstellten sich zentrale und östliche Teile der heutigen Ukraine Moskau, im Zuge der Zweiten Teilung Polens 1793 gerieten auch größere Teile der westlichen Gebiete der Ukraine unter die Kontrolle Russlands.

Die Geschichte Russlands und der Ukraine verlief über Jahrhunderte getrennt.

Ohne dieses Wissen lässt sich die heutige Konfliktlage schwer verstehen. Die Ukraine hat über polnische Vermittlung zahlreiche Einflüsse aus dem Westen erfahren – dazu gehören Renaissance und Humanismus, Reformation und Gegenreformation wie auch das deutsche Stadtrecht. Für Russland gilt dies nicht oder nur sehr eingeschränkt. Heute stellen diese historischen westlichen Einflüsse ein wichtiges Argument der Ukraine dar, um ihre Zugehörigkeit zu eben diesem Westen zu betonen.

Die Geschichte der Ukraine ist durch eine lange Staatslosigkeit geprägt. Deswegen ist es für sie überaus wichtig, einen mittelalterlichen Anknüpfungspunkt zu besitzen, eine Art Goldenes Zeitalter, auf das man sich berufen kann. Das bereits erwähnte national-imperiale Narrativ Russlands wiederum behauptet, dass Russland und nicht die Ukraine Erbe des Kiewer Reiches sei und die „Kleinrussen“, wie die Ukrainer im Zarenreich bezeichnet worden sind, stets eine „Wiedervereinigung“ mit ihren russischen „Brüdern“ angestrebt hätten.

Nach Putins Meinung hat die Ukraine 1991 mit ihrer Unabhängigkeit und der Hinwendung zum Westen die Einheit der „Russen“ zerstört. Mit seinem Angriffskrieg will Putin die Ukraine wieder mit Gewalt in die „russische Welt“ zurückführen.

Im Jahr 1648 rebellierten die Ukrainer gegen die Herrschaft Polens, und die Saporoger Kosaken begründeten einen de facto unabhängigen Herrschaftsverband, das sogenannte Hetmanat, das in der Ukraine heute als erster ukrainischer Nationalstaat glorifiziert wird. Schon sechs Jahre später unterstellte sich das Hetmanat dem Zaren in Moskau. Die russischen Herrscher wiederum demontierten die anfangs gewährten Autonomierechte nach und nach.

1708 brach der Kosakenhetman Iwan Mazepa deshalb mit Russland – und verbündete sich mit den Schweden, die sich damals im Krieg mit Zar Peter I. befanden. Zar Peter, dem später der Beiname „der Große“ verliehen wurde, siegte.

Die Ukrainer riefen nach dem Sturz des Zaren und der Machtergreifung der Bolschewiki im Januar 1918 in Kiew die unabhängige Ukrainische Volksrepublik aus.

Der Großteil der Ukraine ist dann als Ukrainische Sowjetrepublik Teil der Sowjetunion geworden. Zum ersten Mal ist die ukrainische Nation damals von Russland offiziell anerkannt worden.

Putin gibt heute Lenin die Schuld: Dieser habe die ukrainische Nation „erfunden“ und der Ukraine mittels „verbrecherischer Grenzen“ 1922 überhaupt erst zur Existenz verholfen. Und damit Russland geschadet. Stalin wiederum misstraute der Ukraine bereits seit langer Zeit – und ergriff seit 1930 brutale Maßnahmen. Die schlimmste war die absichtlich herbeigeführte Hungersnot von 1932/1933, in der Ukraine Holodomor genannt, die circa vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern das Leben kostete.

Es ist diese ungeheure Gewalterfahrung, die die Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert kennzeichnet. Mehr als 14 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer starben zwischen 1914 und 1945 einen gewaltsam herbeigeführten Tod: im Russischen Bürgerkrieg, dem Holodomor, dem Stalinschen Terror und zwei Weltkriegen. Diese Gewalterfahrung ist im kollektiven Gedächtnis der Ukrainer tief verankert, und sie wird heute durch den brutalen Angriffskrieg Russlands wiederbelebt.

Heute stellt Putin den Krieg gegen die Ukraine als eine Art Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges dar, den Stalin 1941 gegen die deutschen Invasoren ausgerufen hatte.

Doch das ist reine Propaganda. Selenskyj ist jüdischer Herkunft, drei seiner Verwandten sind im Holocaust ermordet worden. Sein Großvater hat in der Roten Armee gekämpft. Ebenso wie zahlreiche andere Ukrainer. Zur historischen Wahrheit gehört aber auch die Tatsache, dass es im Westen des Landes nationalistische Gruppen von Ukrainern gegeben hat, die mit den Deutschen zusammengearbeitet haben. Und sich auch am Holocaust beteiligten. Die ukrainische Führung von heute deswegen als „Nazis“ zu bezeichnen, ist absurd. Antisemitismus spielt heute in der Ukraine kaum eine Rolle.

2013 und 2014 folgten die Proteste des sogenannten Euromaidan. Diese richteten sich gegen den 2010 doch noch zum ukrainischen Präsidenten gewählten Janukowytsch und dessen von Russland erzwungene Weigerung, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Kurz darauf annektierte Russland die Krim und zettelte den Krieg gegen die Ukraine im Donbas an.

Der von einer Volksbewegung herbeigeführte Sturz des gewählten Präsidenten und die Hinwendung zum Westen weckten in Putin die Angst, dass sich die russische Zivilgesellschaft an der Ukraine ein Beispiel nehmen und seinen eigenen Sturz und einen Wechsel des politischen Systems auslösen könnte. mehr Informationen

Weitere Artikel: https://www.obrist-impulse.net/themen/ukraine

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