Russlands Suche nach seiner Identität

Putin redet viel von der russischen Identität. Nur weiß keiner, worin die besteht, sagt der Philosoph Boris Groys in Zeit de.

Auch heute sehen viele Russland als das zeitgenössische Byzanz, als Hort des wahren Christentums – und den Westen als Feind, der mit seinen Kreuzzügen Konstantinopel zerstörte und jetzt sein Erbe zunichtemachen will.

Russland sei der einzig verbliebene Ort der Wahrheit in der Welt. Verteidigte man schon Byzanz als das wahre Erbe Roms, wird auch der heutige Westen als dekadente Verfälschung seines ursprünglichen Selbst gesehen. Der Westen selbst habe durch Multikulturalismus, LGBTQ-Ideologie und allgemeine Dekadenz nämlich seine Wurzeln verraten.

Man weiß, wer der Feind ist und dass man gegen ihn irgendwas verteidigen soll, aber was das exakt ist, weiß man nicht.

Hatte die Sowjetunion sich also als progressive Seite der westlichen Kultur verstanden, sieht sich das heutige Russland als ihre reaktionär-konservative Seite. In beiden Fällen versteht Russland sich selbst als den wahren Westen, den real existierenden Westen hingegen als pervertierten Westen.

Die slawophile Ideologie ist schlicht eine Kopie der deutschen. Will man im heutigen Russland die „russische Seele“ oder die „russische Weite“ belegen, zitiert man am Ende meist Rainer Maria Rilke. All diese Mythen sind entweder eine deutsche Erfindung oder deutsche Selbstbeschreibungen, die die Russen auf sich angewendet haben.

Der Mythos der „russischen Seele“ ist letztlich eine Übertragung der „deutschen Seele“ auf russische Verhältnisse.

Putin – ebenso wie die neue russische Oberschicht, aber auch viele Intellektuelle und weite Teile der Öffentlichkeit – wollten eher in die vorrevolutionäre Zeit zurück. Es gab einen Kult um ein verlorenes Russland, das von der Oktoberrevolution zerstört, aber jetzt wiederentdeckt, wiederbelebt, wiedererfunden werden musste. Dabei ging es um das Russland von 1913: eine Kombination aus autoritärem Regime, militärischer Macht und aufstrebendem Kapitalismus.

Dieses Russland war aber zunächst nicht primär nationalistisch, sondern imperialistisch. Die nationalistischen Aspekte sind erst mehr und mehr dazugekommen. Nach dem Motto: Wir müssen unsere eigene Kultur entdecken, erfinden, erschaffen – und zwar um uns vom Westen abzusetzen. Gerade letzteres wurde immer wichtiger.

Diese Diskussion geht ins 19. Jahrhundert zurück. 1829 schrieb Pjotr Tschaadajew – auf Französisch – seinen Ersten philosophischen Brief, der 1836 dann auf Russisch erschien. Tschaadajew sah in Russland ein kulturelles Niemandsland. Alles, was man an Kultur habe, sei vom Westen übernommen. Und das leider nicht einmal richtig. Denn im Land herrsche überall noch ein Ressentiment gegen den Westen.

Die kritische Reaktion auf Tschaadajew war gewaltig. Die Kritiker nahmen dabei vor allem Bezug auf die Trennung zwischen Ost- und Westkirche im Jahre 1054 als jenen historischen Punkt, an dem die eigenständige russische Kultur entsteht – und zwar direkt in der Opposition zum Westen. Und die ist interessanterweise bis heute ein großes Thema für die russische Staatsideologie. Demnach verwalte Russland das Erbe von Byzanz. Und Byzanz galt hierbei als das wahre römische Reich, die Zaren als die wahren Nachfolger Cäsars, die Orthodoxie als der wahre Glaube. Deshalb sei Russland, so die Kritiker Tschaadajews, der einzig verbliebene Ort der Wahrheit in der Welt. Seit diesen Reaktionen hat sich ideologisch nicht viel verändert.

Philosoph Alexander Dugin vertritt eine ideologische Mischung aus Carl Schmitt, Arnold J. Toynbee und Samuel Huntington, also vornehmlich die Idee, dass es feste Kulturräume gibt – Indien auf der einen, der Westen auf der anderen Seite – und dazwischen das sogenannte Eurasien, das nun endlich zur Entfaltung kommen müsse.

In diesem Zusammenhang war auch der 2008 verstorbene Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn von Bedeutung. Putin beeindruckte dessen Idee einer ostslawischen Union aus Russland, Ukraine, Belarus und Kasachstan. Auf diese ideologische Schiene ist das Regime aber erst in den letzten Jahren gekommen.

Die verstärkte Auseinandersetzung der Russen mit ihrem Verhältnis zum Westen begann mit Tschaadajew, nachdem die Russen zuvor – als Verbündeter Preußens – während der Napoleonischen Kriege Paris besetzt hatten.

Die Annahme des aktuellen Krieges bestand darin, dass die Ukrainer sich über die russische Invasion freuen. Da das Regime aber behauptete, die Ukrainer wollten im Hier und Jetzt lieber Russen sein, war es schlicht eine falsche Einschätzung der Tatsachen. Die bloße Tatsache, dass es so nicht gekommen ist, markiert schon eine Niederlage. Putin ist also auf seine neu erworbene eurasische Ideologie reingefallen. mehr Informationen

In den achtziger Jahren entdeckte Wladimir Putin den russischen Philosophen Iwan Iljin (1883–1954). Mitten im Weltkrieg 1944 erschien das programmatische Werk für ein nachkommunistisches Russland: «Wesen und Eigenart der russischen Kultur», verlegt in Affoltern am Albis.

Im Essay „Was der Welt die Zerstückelung Russlands verspricht“ behauptet Iljin, der imperialistische Westen werde das falsche Versprechen von Freiheit nutzen, um Russland Länder wegzunehmen: das Baltikum, den Kaukasus, Zentralasien und vor allem „die ›Ukraine‹„. Der Westen wolle eine Balkanisierung Russlands, um das Reich zu zerstören. Von diesem Text ist auch Wladimir Putin fasziniert. Seit 2005 taucht Iljin wiederholt in wichtigen Reden auf.

2014, zur Vorbereitung der Annexion der Krim, ließ Putin allen höheren Beamten und Regionalgouverneuren ein Exemplar von Unsere Aufgaben zukommen, dem zentralen Sammelband mit Iljins Aufsätzen. Putin riet seinen Kadern, sie sollten Lenin weglegen und ab jetzt Iljin studieren.  Weiterlesen: https://www.obrist-impulse.net/wiedergeburt-einer-ideologie

2005 wurden die sterblichen Überreste von Iwan Iljin von der Schweiz nach Moskau überführt. Dort erwies ihm Wladimir Putin die letzte Ehre.

Geistliche Rückenstärkung für seinen Krieg in der Ukraine erhält Russlands Präsident Putin vom Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, dem Patriarchen Kyrill. Von Beginn an rechtfertigt der das Vorgehen russischer Soldaten. Spricht vom metaphysischen Kampf gegen das Böse – und meint damit den Westen und dessen liberale Werte. Sich denen entgegenzustellen, sei das einzig Richtige und rechtfertige letztlich auch das Leid in der Ukraine. Selbst wenn dabei auch seine eigenen orthodoxen Gläubige angegriffen werden.

1:50 Kyrill sagt: „Es ist erstaunlich, dass so ein riesiges Land wie Russland noch nie jemanden angegriffen hat, sondern nur seine Grenzen verteidigt hat“.  Was ist mit Finnland, den baltischen Staaten, Polen 1939, Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968, Afghanistan 1979, Georgien 2008, der Ukraine 2014? Hat eines der Länder Russland angegriffen?

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