Politisches Tagebuch: Jeder konnte es wissen

Ein Jahrhundert-Dokument: Von 1939 bis 1945 führte Friedrich Kellner, ein kleiner Justizbeamter in der hessischen Provinz, sein politisches Tagebuch. Es zeigt, wie viel der Normalbürger von den Verbrechen des NS-Regimes mitbekam.

Beitrag zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust

Laubach, Oberhessen, Anfang September 1939. In seiner Dienstwohnung im Amtsgericht der kleinen Stadt bei Gießen beginnt der Justizinspektor Friedrich Kellner damit, ein Tagebuch anzulegen. »Es ist heute so«, schreibt er, »dass das Leben überhaupt nicht mehr lebenswert ist. Ein drangsaliertes, gequältes, eingeschüchtertes, überaus unfreies Volk soll sich für einen Tyrannen totschießen lassen. Terror ohnegleichen! Die Bonzen als Spitzel. Der anständige Deutsche hat kaum mehr den Mut, überhaupt zu denken, geschweige denn etwas zu sprechen.«

Friedrich Kellners an die 900 Seiten zählendes Tagebuch aus den Jahren 1939 bis 1945 gehört zu den großen historischen Dokumenten des 20.Jahrhunderts. Sein Tagebuch wirft erneut die Frage auf: Was konnte der Einzelne während der NS-Zeit wissen? Was las er in der Zeitung, hörte er im Radio (ohne heimlich den »Feindsendern« zu lauschen)? Was war von den großen Verbrechen in Erfahrung zu bringen, wenn ihm jeder Zugang zu den internen Kreisen des Regimes fehlte?

Obwohl sein Lebenslauf dem Hunderttausender einfacher und mittlerer Beamter glich, die in Scharen in den ersten Tagen und Wochen nach Hitlers Machtantritt in die NSDAP drängten und seiner Politik zujubelten, widerstand Kellner. Diese Haltung ließ er immer wieder in Gesprächen durchblicken, sodass den Gewaltigen in Laubach klar werden konnte, dass sie es mit einem Regimegegner zu tun hatten. Sie bekamen ihn jedoch nicht richtig »zu packen«, wie die Kreisleitung der NSDAP der Laubacher Ortsgruppe 1940 bedauernd auf deren Ansinnen mitteilte, Kellner in »Schutzhaft« nehmen zu lassen. »Menschen vom Typ Kellner« seien »viel zu intelligent«, als dass sie »sich greifbar schuldig machten«. So vertröstete man denn auf die Zeit nach dem Krieg: »Wenn wir Leute vom Schlage Kellner fassen wollen, müssen wir sie aus ihren Schlupfwinkeln herauslocken und schuldig werden lassen. Ein anderer Weg steht zur Zeit nicht offen. Zu einem Vorgehen ähnlich dem seinerzeit gegen die Juden ist die Zeit noch nicht reif. Das kann erst nach dem Krieg erfolgen.«

Zufällig Gehörtes, Gespräche und vor allem die jedermann zugänglichen Zeitungen waren Kellners Quellen. Er verfügte weder über Einblick in Geheimdokumente, noch konnte er wie die Exil-SPD für ihre Deutschland-Berichte auf ein Netz von Zuträgern zurückgreifen. Der entscheidende Unterschied zu den meisten anderen »Volksgenossen« war wohl, dass Kellner mit wachem Verstand die NS-Propaganda. So konnte ein einfacher Mann ohne höhere Schulbildung den wahren Kern des Regimes erkennen.

Ein stetig wiederkehrendes Thema ist der Luftkrieg. Am 1. September 1940 schreibt Kellner dazu: »Wenn in den Heeresberichten und in den Zeitungen der Flugwaffe täglich gedacht wird, so wird hierdurch der Versuch gemacht, Eindruck hervorzurufen. Unsere Flieger legen nach den Meldungen alles in Schutt und Asche. Der Gegner trifft nur freies Feld, Friedhöfe oder Krankenhäuser.«

Selbst als die Bombardements später zunehmen und seine eigene Verwandtschaft in Mainz betroffen ist, hält Kellner an seiner Überzeugung fest. Er verspottet all diejenigen, die über »Terrorangriffe« lamentieren, aber vorher über die deutschen Luftschläge gegen die englischen Städte frohlockt haben.

Dass den maßlos übertriebenen Verlusten der Gegner keine Zahlen der deutschen Verluste gegenübergestellt werden, verurteilt er immer wieder. Schließlich behilft er sich mit einer eigenen Berechnung. Im Oktober 1941 zählt er alle im Hamburger Fremdenblatt veröffentlichten Todesanzeigen zusammen und kommt auf 281. Auf dieser Grundlage rechnet er hoch – bei angenommenen 250 Zeitungen mit jeweils fünf Todesanzeigen pro Tag kommt er auf eine Zahl von mindestens 30.000 gefallenen deutschen Soldaten in einem Monat, vergisst aber nicht, anzumerken, dass die wahre Zahl noch deutlich höher liegen müsse, da es nicht für jeden eine Todesanzeige gebe.

So aufmerksam, wie Kellner während des Krieges die Zeitläufte mithilfe der Presse verfolgte, ist anzunehmen, dass er auch in den ersten Jahren nach 1933 die Verbrechen des Regimes genau beobachtet hatte: die Etablierung der Diktatur, die Ausschaltung der politischen Gegner, die Verfolgung und Entrechtung der Juden, die Errichtung von Konzentrationslagern und vieles mehr. Unstrittig ist, dass hiervon alle Zeitgenossen wussten, wenn auch die Zustände in den KZs nicht im Detail bekannt waren.

Die Massenverbrechen während der Kriegszeit aber, vor allem den Mord an den Behinderten und die Vernichtung der europäischen Juden, wollte das Regime unbedingt geheim halten. Selbst intern bedienten sich die Täter einer Art Geheimsprache. Das machte es vielen Deutschen nach 1945 einfach, pauschal abzustreiten, »davon« etwas gewusst zu haben. Die Forschungen der letzten zwei Jahrzehnte indes haben hinreichend gezeigt, dass jeder wissen konnte, der wissen wollte – mitunter sehr detailliert. Fest steht auch: Die »Volksgemeinschaft« hatte begriffen, dass den Juden »nichts Gutes« widerfuhr. Friedrich Kellners Tagebücher nun belegen eindrücklich, was man alles wann und wo in Erfahrung bringen konnte.

Auf ganzer Linie gescheitert war der Versuch des Regimes, den Mord an den Behinderten und unheilbar Kranken zu vertuschen. Seit Herbst 1939 töteten Ärzte und Pfleger in sechs über das gesamte Reichsgebiet verteilten Mordzentren bis Ende August 1941 mindestens 70.000 Menschen in Gaskammern und äscherten ihre Leichen anschließend ein. Nördlich von Wiesbaden, in der Heil- und Pflegeanstalt Hadamar, wurden innerhalb weniger Monate von Dezember 1940 bis zum Frühjahr 1941 rund 10.000 Patienten umgebracht, was die Menschen der Umgebung sehr bald wussten. Dieses Wissen verbreitete sich über die Region hinaus.

Spätestens im Juni 1941 hörte Friedrich Kellner davon. Am 10. Juni schreibt er: »In letzter Zeit mehren sich die Anzeigen über Todesfälle in der Heil- und Pflegeanstalt in Hadamar. Es hat den Anschein, daß unheilbare Pflegebefohlene in diese Anstalt gebracht werden. Auch soll eine Anlage zur Einäscherung eingebaut worden sein.« In den folgenden Wochen erreichen Kellner weitere Informationen, die sich schließlich Ende Juli 1941 zur Gewissheit verdichten, dass in Hadamar und andernorts Ungeheuerliches vor sich geht: »Die ›Heil- und Pflegeanstalten‹ sind zu Mordzentralen geworden. Wie ich erfahre, hatte eine Familie ihren geistig erkrankten Sohn aus einer derartigen Anstalt in ihr Haus zurückgeholt. Nach einiger Zeit erhielt diese Familie von der Anstalt eine Nachricht des Inhalts, daß ihr Sohn verstorben sei und die Asche ihnen zugestellt! Das Büro hatte vergessen, den Namen auf der Todesliste zu streichen. Auf diese Weise ist die beabsichtigte vorsätzliche Tötung ans Tageslicht gekommen.«

Zur selben Zeit, unmittelbar nach dem Überfall auf die Sowjetunion, erreicht die Verfolgung der Juden eine neue Eskalationsstufe. In Polen und den besetzten sowjetischen Gebieten beginnt der Holocaust – Hunderttausende Menschen werden erschossen. Das Wissen von diesen Morden dringt bald schon ins Reich, bis in die Provinz. So auch zu Kellner, der am 28. Oktober 1941 schreibt: »Ein in Urlaub befindlicher Soldat berichtet als Augenzeuge fürchterliche Grausamkeiten in dem besetzten Gebiet in Polen. Er hat gesehen, wie nackte Juden u. Jüdinnen, die vor einem langen, tiefen Graben aufgestellt wurden, auf Befehl der SS von Ukrainern in den Hinterkopf geschossen wurden u. in den Graben fielen. Der Graben wurde dann zugeschaufelt. Aus den Gräben drangen oft noch Schreie!!«

Für Kellner gibt es da nur eins: die konsequente Verfolgung der Täter. Auch die breite Masse der Bevölkerung will er nicht aus der Verantwortung entlassen: »Es gibt keine Strafe, die hart genug wäre, bei diesen Nazi-Bestien angewendet zu werden. Natürlich müssen bei der Vergeltung auch wieder die Unschuldigen mitleiden. 99 Prozent der deutschen Bevölkerung tragen mittelbar oder unmittelbar die Schuld an den heutigen Zuständen

In den folgenden Wochen und Monaten verfolgt er das Schicksal der Juden, etwa Deportationen aus Frankfurt und Kassel. Was im Herbst und Winter 1941 vielleicht noch eine Ahnung gewesen sein mag, ist im Mai 1942 für ihn schreckliche Gewissheit: Die Maßnahmen und Massaker haben System und zielen auf die vollständige Ermordung der Juden ab.

Im September 1942 erfasst der Mordapparat auch Kellners unmittelbare Umgebung. Aus Laubach werden zwei jüdische Familien deportiert. Seinem Entsetzen und Zorn macht Kellner in seinem Tagebuch Luft: »In den letzten Tagen sind die Juden unseres Bezirks abtransportiert worden. Von hier waren es die Familien Strauß u. Heinemann. Von gut unterrichteter Seite hörte ich, dass sämtliche Juden nach Polen gebracht u. dort von SS-Formationen ermordet würden. Diese Grausamkeit ist furchtbar. Solche Schandtaten werden nie aus dem Buche der Menschheit getilgt werden können. Unsere Mörderregierung hat den Namen ›Deutschland‹ für alle Zeiten besudelt. Für einen anständigen Deutschen ist es unfassbar, dass niemand dem Treiben der Hitler-Banditen Einhalt gebietet.«

mehr Informationen

‚Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne‘: Tagebücher 1939-1945

Ausgabe – 1. Juli 2011

 

 

Verschwörungstheorien gehen weiter – auch gegen die Juden

Zu dem System der Informationsselektion 25.38

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