Kirchen ohne Hoffnung

Die Kirchen in Deutschland haben so viel Geld und Personal wie nie zuvor, doch die Menschen laufen ihnen davon. Ist der moderne Mensch religiös taub? Oder sprechen Pfarrer und Bischöfe die falsche Sprache?

Von allen anderen Religionen unterscheidet sich das Christentum dadurch, dass Gott kein abstraktes Wesen bleibt, sondern als Mensch in die Welt gekommen ist, um dem Menschen nahe zu sein und aus Gebundenheit zu befreien. Aber wird diese Botschaft noch verstanden? Eigentlich nicht. Immer mehr Menschen denken beim Thema Religion nicht an Befreiung, sondern an Bevormundung. Leute wie Bonhoeffer, Martin Luther King oder Mutter Teresa sind zwar immer noch Vorbild, aber wenn über sie gesprochen wird, wird oft unterschlagen, dass sie ihre Kraft aus einem tiefen Glauben und einem leidenschaftlichen Gebetsleben schöpften. Unbeugsamkeit, Nächstenliebe und der Kampf für Menschenrechte passen immer noch gut in die Zeit; die Beziehung zu Gott wird dagegen zur Fußnote.

Wird das Christentum in Zukunft noch zu Deutschland gehören?
Alle Indikatoren weisen seit Jahren nach unten – nur die Einnahmen, kurios genug, steigen vorläufig weiter: Im Jahr 2015 nahmen die beiden großen Kirchen 11,5 Mrd. Euro ein, mehr als je zuvor. Die Konjunkturentwicklung kompensiert einstweilen die schwindende Mitgliederzahl. So kann die Fassade noch eine Weile aufrechterhalten werden.

Politiker und Kirchenvertreter reden sich die Wirklichkeit immer wieder schön und berufen sich, wenn’s eng wird, am liebsten auf „christliche Werte“, die angeblich, wenn schon nicht direkt, dann doch irgendwie indirekt, überall in Deutschland wirken und fortleben. Aber stimmt das? Ist das Schlagwort von den „christlichen Werten“ nicht längst der kleinste gemeinsame Nenner geworden, auf den man sich gerade deshalb einigen kann, weil damit so viel Gutes angedeutet und so wenig Konkretes gesagt wird?

Die tiefgreifende Entfremdung zwischen den christlichen Kirchen und den Menschen werden offensichtlich. Umfragen zeigen, dass ein radikaler Atheismus zwar vorläufig ein Minderheitenphänomen ist, die meisten Deutschen aber die zentralen Inhalte des Christentums nicht mehr akzeptieren. Zwei Drittel glauben nicht an ein ewiges Leben. Selbst von denen, die formal noch in der Kirche sind, glaubt nur eine Minderheit an die Auferstehung der Toten – aber steht und fällt nicht gerade damit der christliche Glaube? Von den allermeisten Christen abgelehnt wird die Vorstellung von einem „Jüngsten Gericht“, auch wenn gerade der Glaube an eine nachgeordnete Gerechtigkeit den Menschen über Jahrtausende Trost und Hoffnung gespendet hat. Heute dagegen wird dergleichen als Drohung und Einschüchterungsversuch empfunden. Religion muss schon, wenn überhaupt, ein vorbehaltloses Heilsversprechen beinhalten.

So sehr sich auch beide Kirchen darin überbieten, dem Zeitgeist nachzulaufen, die Abwärtsbewegung haben sie nicht stoppen können. Allein seit der Jahrtausendwende haben die großen Kirchen in Deutschland rund acht Millionen Mitglieder verloren. Die Menschen laufen in Scharen davon. Papst Franziskus hat den deutschen Bischöfen sein Entsetzen über die „Erosion des Glaubens in Deutschland“ mitgeteilt und sie aufgefordert, „die lähmende Resignation zu überwinden“. Franziskus sieht in Deutschland eine Tendenz zum bürokratischen Überbau ohne Glaubensfundament: „Es werden immer neue Strukturen geschaffen, für die eigentlich die Gläubigen fehlen.“

Kultur kann nicht einfach nur bestaunt werden kann, sondern muss aktiv gelebt und entschlossen weitergetragen werden. Entweder man sorgt dafür, dass das Feuer weiterhin brennt, oder man steht irgendwann vor einem Haufen Asche.

Es gibt auch ermutigende Aufbrüche. Dass überall in Deutschland junge Menschen einmal im Monat zum „Night Fever“ als ehrliche Suchende zusammenkommen, dokumentiert die Leuchtkraft des Christentums viel mehr als ein neue Aktionswoche.

Es gibt auch die „anonymen Christen“, die sich von der Kirche verabschiedet haben und dennoch ein christliches Leben führen. Christsein heißt nicht nur, das Gute zu tun, sondern auch, die befreiende Botschaft des Evangeliums weiterzutragen.

Haben die Kirchen keine Chance mehr? Dagegen spricht überall auf der Welt der Erfolg der heranwachsenden Freikirchen und Pfingstbewegungen. Ihr Aufstieg zeigt, dass auch der moderne Mensch immer wieder auf die existentiellen Fragen des Daseins zurückgeworfen wird, auf das Woher und Wohin, auf die eigene Sterblichkeit und – nicht zuletzt – auf die Erfahrung der Liebe. Die traditionellen Kirchen werden die Deutungshoheit über diese Fragen verlieren, wenn sie nicht zu einer neuen religiösen Sprache finden, die die Gotteserfahrung überzeugend in Worte und Bilder fasst.

Entscheidend dürfte sein, ob es den Kirchen gelingt, eine Erfahrung der Transzendenz zu vermitteln oder ob all ihre Bemühungen im Sozialen und Kulturellen, also in Diesseitigkeit, im Jetzt und Hier, verhaftet bleiben. Erst die Berührung mit der Jenseitigkeit öffnet die Schleusen für ungeahnte Kräfte, die im Menschen schlummern.

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