Islam und Gewalt

3.11.20 Der Rechtsanwalt Murat Kayman, ehemaliger Koordinator von Ditib, versteht sich als Muslim und Europäer. Auf Zeit äussert er sich zum Mord an Samuel Paty.

Es gibt unter vielen Muslimen eine unkritische Haltung zur Gewalt.

Wir müssen, gerade als Muslime, deutlicher beschreiben, wie er umgebracht wurde. Die Art und Weise seiner Ermordung haben muslimische Extremisten bei ähnlichen Taten in der Vergangenheit als „Schlachtung“ ihres Opfers bezeichnet. Die Täter vollziehen ihre Tat dabei unter Anrufung Gottes. Es ist zu vermuten, dass auch der Mörder Samuel Patys seinem Motiv und seiner Tat die Bedeutung einer religiösen Rache oder einer stellvertretend vollzogenen göttlichen Strafe verleihen wollte.

Als Muslim meint und hofft man, die öffentlich präsenten muslimischen Dachverbände auf Bundesebene, wie die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Ditib), die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG), der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) oder der Islamrat, hätten gerade wegen dieser Konstellation das Bedürfnis, in diesem Fall nicht zu schweigen.

Doch außer ein paar spärlichen Tweets oder Einträgen auf Facebook war nichts zu lesen oder zu hören. Selbst das wenige, das gesagt wurde, folgte einer Dramaturgie, die mittlerweile wie eine ritualisierte Betroffenheitsfolklore wirkt. Immer wieder wird erklärt, dass solche Taten nichts mit dem Islam zu tun haben! Am Ende des Tages bedeutet Islam Frieden und Allah allein weiß, weshalb Menschen plötzlich auf die Idee kommen, anderen die Kehle durchzuschneiden.

Es gibt viele Fragen. Ob etwa ein Zusammenhang zwischen einem solchen Mord und dem islamischen Opferritus bestehen könnte. Das jährliche Opferfest wird als Pflichterfüllung und Segen angepriesen. Kaum jemand stellt dies infrage oder fordert, die Schlachtung vielmehr als mahnende Erinnerung an das menschliche Gewaltpotenzial wahrzunehmen; als einen Tabubruch, nämlich der Tötung eines von Gott erschaffenen Wesens, das an die Anmaßung des Menschen erinnern und ihm Demut abverlangen soll.

Stattdessen wird der Akt des Tötens, konkret des Schlachtens eines dem Menschen hilflos ausgelieferten Lebewesens mittels Kehlschnitt als Normalität der Dominanz des Überlegenen gegenüber dem Unterlegenen – dem vielleicht Minderwertigen? – etabliert.

Es herrschen Bedingungen, in denen sich der Einzelne mit seinem individuellen Verhalten stets einer kollektiven Akzeptanz unterordnet und sich einer widerspruchslosen Duldung und Befürwortung durch die religiöse Gemeinschaft vergewissert.

Alle Religionen, so auch der Islam, tragen ein Friedenspotenzial und ein Gewaltpotenzial in sich. Das, was die Glaubensgemeinschaften als religiös konforme Haltung vorleben und tradieren, prägt ganz wesentlich die Frage, in welche Richtung sich insbesondere junge Muslime entwickeln.

Wenn also die muslimischen Verbandsvertreter frustriert und desinteressiert darauf hinweisen, dass das alles nichts mit dem Islam zu tun hat, müssen wir ihnen entgegnen: Es hat was mit uns Muslimen zu tun. Die von Muslimen verübte Gewalt hat sehr viel mit dem zu tun, was Muslime in ihren Gemeinschaften als akzeptabel dulden, was sie unterstützen, was sie nicht zum Anlass für Widerspruch nehmen, was sogar eine gemeinsame Identität fördert und was das Gefühl von Zugehörigkeit festigt. Denn auch der Mörder Samuel Patys wird für sich in Anspruch genommen haben, als „guter Muslim“ zu handeln. Die muslimischen Dachverbände schulden uns Muslimen und der gesamten Gesellschaft eine Antwort auf die Frage, warum er seine Tat nicht als Widerspruch zu diesem Anspruch erlebt hat.

Dabei kann ich nicht die Augen davor verschließen, was wir in unseren muslimischen Gemeinschaften unwidersprochen hinnehmen und als wiederkehrende Verhaltensmuster akzeptieren. Es geht nicht darum, dass Gewalt ausdrücklich befürwortet wird, aber sehr wohl gibt es unter Muslimen eine unkritische Haltung zur Gewalt und eine Militanz des Denkens und Glaubens, die nicht mehr hinterfragt wird und nicht als Widerspruch zum Islam wahrgenommen wird.

In unseren muslimischen Gemeinschaften hat Gewalt einen viel zu häufig akzeptierten, als gesellschaftliche Normalität hingenommenen Platz. In der Kindererziehung, im Verhältnis von Mann und Frau oder als Muster kollektiver, politischer oder identitärer Auseinandersetzungen.

Weit verbreitet ist zum Beispiel in der religiösen Pädagogik noch die Vorstellung von Autorität und Unterordnung, die im Zweifel auch mit körperlicher Züchtigung einhergehen kann – die körperliche Herrschaft über das physisch unterlegene Kind wird als legitim angesehen.

Oder suchen muslimische Frauen, die seelische oder körperliche Gewalt in der Ehe erfahren, Rat bei muslimischen Gemeinden und Verbänden, kommt es nicht selten vor, dass ihnen Geduld und stillschweigendes Ausharren empfohlen wird. Nicht die Gewalt des Mannes gilt als religiöse Verfehlung oder gesellschaftliches Stigma, sondern vielmehr der Status einer geschiedenen Frau.

Bis heute ist das Verständnis von Erfolg und Macht mit der Eroberung ehemals muslimisch beherrschter Gebiete oder Symbolbauten verwoben. Eine besondere Funktion erfüllt dabei die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem. Ihre regelmäßig geforderte „Befreiung“ richtet sich gegen Juden, die im Rahmen antisemitischer Stereotype als übermächtiger Feind und Ränkeschmied imaginiert werden. Die Haltung zu diesem Konflikt gilt als Nachweis der eigenen Frömmigkeit. Als „guter Muslim“ ist es völlig klar, wie die Antwort auf die Gretchenfrage kollektiver muslimischer Identität „Wie hältst du es mit Israel?“ lauten muss. Der Antisemitismus unter Muslimen ebnet damit den Weg zur Wahrnehmung und letztlich auch zur Legitimation von Gewalt als Reaktion auf erlittenes Unrecht.

Es gehört zum Wesen einer jeden Religion, dass sie exklusivistische Züge trägt. Jede Religion hält jedoch für ihre Angehörigen auch die Zumutung von Irrationalität bereit. Unser Glaube fordert uns dazu heraus, den eigenen Wahrheitsanspruch nicht nur zu behaupten, sondern durch gute Taten für alle unter Beweis zu stellen. Jemand, der Gewalt gegen andere ausübt, will diesen mittelbaren Wahrheitsbeweis nicht antreten. Er will der Herausforderung, in einer widersprüchlichen Welt gläubig zu sein, durch die Vernichtung des anderen ausweichen. Wer sich als Muslim im täglichen Gebet nur Gott hingibt und sich nur vor ihm beugt, im Gebet geradezu körperlich, darf eigentlich von keinem anderen Menschen erwarten, dass dieser sich der Glaubensüberzeugung und der Meinung eines Muslims zu beugen habe. Wer aber in Kategorien von Überlegenheit und Unterordnung glaubt, ist anfällig dafür, andere Menschen abzuwerten.

Wir müssen als Muslime deshalb aufhören, andere Lebensweisen und Glaubensauffassungen in eine Rangfolge der Glaubwürdigkeit oder Werthaltigkeit einzuordnen. Wir müssen aufhören, solche Abwertungs- und Ausgrenzungserzählungen in unseren Gemeinschaften zu dulden. Wir müssen aufhören, Rassismus, Antisemitismus und Misogynie als hinnehmbare Haltung, ja gar als kollektive Identitäten stiftende Merkmale eines „normalen“ oder „guten“ Muslims wahrzunehmen.

Wir Muslime entscheiden täglich darüber, wie wir diese Idee leben und damit auch darüber, ob sie uns zur Gewalt oder zum Frieden führt. Mehr Informationen

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Der Tagesspiegel berichtet:

Einige muslimische Schüler in Berlin begrüßen den Tod des französischen Pädagogen Paty. Dahinter steckt ein Problem mit streng konservativer Erziehung. Es war der Tag der Schweigeminute für den enthaupteten französischen Lehrer Samuel Paty, auch an der Integrierten Sekundarschule in Reinickendorf gab es diese Geste. Der Lehrer berichtete nun: Ein muslimischer Schüler der achten Klasse habe die Schweigeminute gestört und erklärt, Paty habe „doch das bekommen, was er verdient hat. Der gehörte hingerichtet. Er hatte den Propheten beleidigt.“ Insgesamt vier Kollegen, sagt Nitsch dem Tagesspiegel, seien zu ihm gekommen. „Der Tenor ihrer Berichte war immer der gleiche: Muslimische Schüler sagten, diese Tat sei richtig gewesen, bloß keine Schweigeminute für so jemanden.“ Das ist ein relativ großes Problem in Berlin. Ein Lehrer an einer Integrierten Sekundarschule in Schöneberg erzählt, einer seiner muslimischen Schüler habe gesagt: „Dass jemand umgebracht wird, ist doch nicht so schlimm.“ Der Pädagoge ist überzeugt, „dass dieses Denken an meiner Schule weit verbreitet ist“. Karina Jehnichen, Leiterin der Christian-Morgenstern-Grundschule in Spandau, eine Einrichtung mit hohem Migrations-Anteil, sagt über ihre muslimischen Schüler: „Viele sind in ihrem Denken so verfestigt, dass sie keine andere Ansichten mehr zulassen.“

Es gibt viele muslimische Schüler und Schülerinnen, die nicht verfestigt sind, die ihren Glauben leben und dabei genügend Toleranz für andere Meinungen lassen. Aber jene muslimischen Schüler, die streng konservativ erzogen sind, die keinen Spielraum lassen, die sind für immer mehr Lehrer und Lehrerinnen ein Problem.

Das Sicherheitsgefühl ist zumindest bei einigen Pädagogen weg. „Ich habe jetzt Angst“, sagt ein erfahrene Schulleiterin. „Eine gewisse Angst haben wir alle. Aber viele reden nicht darüber.“

Die Freude beziehungsweise die Sympathie über den Tod von Paty ist ja nur ein Symptom. Das Problem, sagen Pädagogen, gehe viel tiefer. Es geht um die generelle Vorstellung, wie man Religion lebt, welche Werte zählen, wo Toleranz endet. Viele Schüler mit streng konservativen Eltern bekommen in der Moschee oder zu Hause ein Weltbild vermittelt, in denen Homophobie und patriarchalisches Denken Alltag ist. „Die Schüler kommen aus einer Parallelgesellschaft“, sagt der Verbandsvertreter Nitsch, „die gehen neben der Schule noch in die Moschee, die werden dann mit einer Demokratie konfrontiert, die sie in ihrer Parallelwelt nicht kennen.

Die Denkweise dieser streng konservativ erzogenen Schüler zeigt sich vor allem beim Thema Israel. „Wenn man im Geschichtsunterricht das Dritte Reich behandelt, dann sagen muslimische Schüler: Ey, das ist doch gut, dass die Juden ausgerottet wurden“, erzählt ein Pädagoge. Ein Lehrer, der in Schöneberg unterrichtet, sagt, dass ein muslimischer Schüler den Unterricht „gesprengt hat, nur weil ich das Wort Israel benützt habe“. Danach habe es endlose Diskussionen gegeben.

Für Lea Hagen, die Geschichtslehrerin an einem Kreuzberger Gymnasium, die auch im Vorstand des Berliner Geschichtslehrerverbands sitzt, ist das keine Überraschung. „Das hängt ja auch mit dem Medienkonsum zusammen.“ Die muslimischen Schüler verfolgten die Sender ihrer Heimat. In denen gelten Juden und Israel als Zentrum alles Bösen. In ihrer Schule gibt es sehr viele türkischstämmige Schüler und Schülerinnen. „Und im Unterricht kommen dann die Zwischenrufe: Erdogan, Ehrenmann.“ Die Verbandsvertreterin Hagen wirft der Berliner Senats-Bildungsverwaltung vor, sie habe „das Problem lange verdrängt. Man wollte es nicht sehen.“ An ihrer Schule stellt sie in Diskussionen fest, „dass sich die Muslime in der Opferrolle sehen“. Europa sei islamophob, „es geht immer zwischen Wir und Euch“. Da gebe es kein „Empfinden für ein gemeinsames Denken“, kein Gefühl dafür, dass man die Demokratie verteidigen müsse. Diese Schüler bestimmten den Diskurs, sei seien dabei auch in der Mehrheit. „Religionsfreiheit ist ganz wichtig für sie, aber den Propheten zu beleidigen, ist für sie keine Meinungsfreiheit“, sagt die Geschichtslehrerin.

Gleichzeitig gebe es aber enorme Informationsdefizite. „Viele haben bloß grob gehört, dass der Prophet beleidigt wurde, aber sie wissen nicht, was genau passiert ist.“ Es gebe Schüler, die glaubten, Paty habe selber die Karikaturen an die Tafel gemalt, andere hätten noch nie den Namen Paty gehört. Für die Verbandsvertreterin Hagen ist eines klar: „Was in Frankreich passiert ist, das ist ein Problem, das ganz Europa betrifft, also auch uns. “ 

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Immer wieder haben sich Jugendliche und junge Erwachsene von Winterthur aus dem IS angeschlossen. Extremismus-Experte Samuel Althof leitet eine unabhängige Fachstelle für Extremismus und Gewaltprävention und erklärt das Phänomen.

Extremisten suchen sich gegenseitig und werben sich an. Diese Vernetzungen sind heute durch das Internet so global, dass es keine Grenzen mehr gibt. In Winterthur aber kamen sie zusammen um zu plaudern oder Fussball zu spielen. Dann inszenierte sich der psychisch instabilste, der eigentlich Schwächste der Gruppe, gestärkt durch die Ideologie des IS als der Stärkste in der Gruppe und reiste als Kämpfer nach Syrien. Von dort aus sagte er den anderen, sie sollten auch ins Kalifat kommen. Ein Zweiter folgt ihm und es entstand ein Domino Effekt. Man muss von der Vorstellung wegkommen, dass man Terrorismus als Ganzes lösen kann. Ist bei einem Betroffenen sein Gedankengebäude, seine Ideologie – in sich abgeschlossen, wird es sehr schwer werden ihn dennoch zu erreichen. Da kommen auch Deradikalisierungs- Programme an ihre Grenzen. Stellen Sie sich vor, ein Mensch erlebt schon als Kind eine patriarchalische Struktur. Das Kind lernt beispielsweise, dass der Vater immer Recht hat. Dass Gewalt, auch in psychischer Form, alltäglich ist. Das Kind kann diese Werte verinnerlichen und wird diese selbst anwenden. Und genau das ist die Perversion an dieser Geschichte. In seiner subjektiven Perspektive glaubt es, das Richtige zu tun. Das sind meist die biografischen Grundbedingungen für eine Gewalttat. Viele Menschen werden im Gefängnis religiös. Leider sind das häufig Menschen, die Gewalt und Religion verbinden. mehr Informationen

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Eine der Fragen ist: Wer ist ein Held in einer Kultur?

Im christlichen Glauben ist es der Leid ertragene Jesus. Er hat nie Leben genommen sondern wieder hergestellt.

4 Gedanken zu „Islam und Gewalt“

  1. Hmmm! Ich lese den Artikel von Murat Kayman und suche vergeblich den Bezug zur Quelle – dem Koran?! (mehr noch, zu den Hadith)
    Was bleibt denn vom identitären Offenbarungsverständnis der Wahrheit, wenn man ernstlich vorschlägt, den vorletzten Satz des Artikels durchzusetzen?
    In der ZEIT kann man so einen Artikel schreiben und kann damit rechnen, ein „aufgeklärter“, „fortschrittlich denkender“, gebildeter Muslim zu sein … wissend, dass die Zahl der Leser, die je auch nur einen Blick in den Koran geworfen haben, verschwindend gering ist?!

    1. Wie Muslime ihren Glauben begründen ist ihre Sache. Ein offener und friedlicher Islam ist gesellschaftlich wünschenswert. Ich für mich entdecke im ursprünglichen christlichen Glauben diese Offenheit. Sie steht nicht im Konflikt mit dem Neuen Testament. Die Frage ist also, ob Murat Kayman mit Jesus nicht das finden würde, was er sich erhofft.

    2. Guter Punkt!
      Ich denke, dass jeder Christ ersteinmal einen Überblick über den Koran haben sollte.
      Deshalb habe ich mir christliche Apologeten angesehen, die genau in diesem Themengebiet Experten sind. Dann ist es auch einfacher mal tatsächlich größere Abschnitte des Koran und der Hadithen mitzulesen, kontext und die Gesamtheit zu verstehen.
      Nun: Ich definiere nicht das Christ-sein. Der Muslim (wie Murat Kayman) definiert nicht den Islam: Die Schriften tun das. Und den Islamischen Schriften nach ist der Jihad das ultimative Ziel der Muslime (und die einzige Sicherheit oder Hoffnung, die es gibt den Himmel zu erreichen.)
      Wenn man in der Bibel die letzten Verse liest, dann hat man da sehr klare finale Aussagen.
      Das gleiche gilt für den Koran und die (wohl) letzte Offenbarung Allahs an Mohammed, dass die Herrschaft des Islams durch Terror erreicht wird.

      Auf YouTube ist der Kanal „Acts17Apologetic“ (englisch) sehr zu empfehlen.
      oder der deutsche neue Kanal „Achso Kanal“.

      1. Lieber Lutz Luikart, können Sie mir die Stelle im Koran nennen, der den Jihad als einzige Sicherheit nennt, ins Paradies zu kommen? Der Islam ist genauso vielfältig, wie der christliche Glaube oder das Judentum. Spannend aber ist, dass trotz der Aufforderung zum Töten oder die Hand abschneiden, das Christentum und Judentum dies allgemein nicht als eine Aufforderung zu Gewaltanwendung sondern als abschreckende Gleichnisrede verstanden haben.

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