Imperium contra Nationalstaat

Als realitätsfern, gar als verrückt haben Beobachter Wladimir Putin nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine bezeichnet. Doch die Wirklichkeit ist schlimmer, denn Russlands Präsident ist sich wohl bewusst, was er tut. Diese Einschätzung trifft mit Jörg Baberowski einer der renommiertesten Osteuropa-Historiker.

Wir wissen wenig darüber, was im Kreml geschieht. Die Inszenierung verborgener Staatlichkeit, die in Russland seit Peter dem Großen als Tradition fest verankert ist, erfüllt immer noch ihren Zweck.

Manches lässt sich aus Putins Lebensweg herauslesen. Nach dem Fall der Berliner Mauer musste Putin 1990, der in der DDR im KGB gedient hatte, in seine Heimatstadt Leningrad zurückkehren. Dort aber, umgeben von Chaos und Kriminalität, war er ein Niemand. Diese Demütigung hat Putin niemals vergessen.

Putin hat sehr früh die Absicht verfolgt, Russland wieder stark und groß zu machen. Das war so in seiner Zeit als Chef des FSB, aber auch später als russischer Ministerpräsident und Staatschef. Anfangs dachte er, dieses Ziel auf friedlichem Weg, in Kooperation mit dem Westen, vorantreiben zu können. Allerdings hat Putin den Westen und dessen Vorstellungen von einer Zusammenarbeit falsch eingeschätzt. Wir sollten nicht vergessen, dass die Entscheidungsträger in der späten Sowjetunion und in der Russischen Föderation von den Verhältnissen im Westen wenig wussten.

Es gab einen großen und einschneidenden Moment: Die Luftangriffe der Nato auf Belgrad, die Hauptstadt Serbiens, im Jahr 1999, während des Kosovokrieges. Damals musste die russische Regierung die Erfahrung machen, nicht einmal mehr zu Rate gezogen zu werden. Russland verstand sich als Verbündeter Serbiens, spielte in den Kriegen auf dem Balkan aber keine Rolle mehr. In Moskau herrschte Konfusion. Warum gab es die Nato noch? Und weshalb demütigte sie Russland auf diese Weise? Solche Fragen standen am Beginn der langsam einsetzenden Absetzbewegung Russlands vom Westen.

Putin hat im Geheimdienst gelernt, worauf es ankommt, wie man seine Absichten verschleiert und am Ende doch bekommt, was man will. Aus seiner Sicht hätte die Sowjetunion nicht zerfallen müssen, nicht zerfallen dürfen. Diesen „Fehler“ will Putin nun korrigieren. Indem er der Ukraine eine eigene Staatlichkeit abspricht und sie deshalb wie eine abtrünnige Republik mit Krieg überzieht. Putin ist keineswegs ein Zyniker, der sich die Geschichte so zurechtlegt, wie er sie für seine Zwecke gebrauchen kann. Für ihn ist die Ukraine Teil des russischen Imperiums.

Wir denken in nationalstaatlichen, Putin in imperialen Kategorien. Denn die Sowjetunion, als dessen Erbe sich Russland versteht, war ein Vielvölkerreich. Für Putin ist die Ukraine ein künstliches Gebilde ohne Existenzberechtigung, geschaffen von Politikern, die die Sowjetunion fahrlässig aufgelöst hatten. Er sieht die Welt aus der Perspektive imperialer Macht, er versteht nicht, dass die Ukraine dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion ein Nationalstaat ist, der sich in das alte Imperium nicht mehr einfügen lässt.

Die Sowjetunion ist nicht durch Krieg oder Revolution untergegangen, sondern durch einen Regierungsakt. Darüber kommen Putin und seine Gefolgsleute nicht hinweg. Und deswegen glauben sie, den vermeintlichen Irrtum der Vergangenheit korrigieren zu müssen und zu können. Sie wollen nicht anerkennen, dass sich die Republiken der UdSSR inzwischen in Nationalstaaten verwandelt, sich vom Imperium gelöst haben. Das herausragende Beispiel ist die Ukraine, die seit der russischen Annexion der Krim 2014 einen bemerkenswerten Prozess der Identitätsfindung über alle sprachlichen und kulturellen Grenzen erlebt.

Der russische Präsident braucht einen Erfolg, den er als Sieg verkaufen kann. Es wird vom Verlauf des Krieges abhängen, was am Ende als Sieg gelten kann und von der Widerstandsfähigkeit der Ukraine. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Ukraine am Ende eines zermürbenden und zerstörerischen Krieges nachgibt, weil den meisten Menschen ein Leben im Frieden lieber ist als der Heldentod. Darauf vertraut Putin, weil seine Armee zu großen Operationen nicht mehr in der Lage ist. Und möglicherweise wird ihm genau das gelingen.

Putin weiß genau, was er tut. Und dennoch können wir uns Menschen, die Gewalt und Zerstörungen als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele einsetzen, offenbar nur als Verrückte vorstellen. Es fällt uns leichter, den Schrecken zu bewältigen, wenn wir die Täter pathologisieren und für anormal erklären.

Putin ist die Ehre wichtiger als die Ökonomie. In seiner Gedankenwelt sind Ehre und Männlichkeit, Militär und Gewalt positiv besetzte Begriffe. Für Putin ist der Krieg eine Möglichkeit, die man ergreifen kann und muss, wenn man sich davon einen Gewinn verspricht. Putin vertraut darauf, dass die mehr oder weniger geschlossene Front des Westens einbrechen wird, weil sich dort niemand zum Helden machen will und weil die Wirtschaftskrise die verwöhnten Europäer am Ende härter treffen könnte als Russland, dessen Bevölkerung mit Entbehrungen besser umzugehen versteht. Putin spielt auf Zeit – und er ist bereit, den Krieg zur Not monatelang weiterzuführen. An seiner Entschlossenheit und Rücksichtslosigkeit sollten wir nicht zweifeln.

Je länger der Krieg dauert, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Interesse an der Ukraine im Westen erlischt. Putin sitzt einfach am längeren Hebel, weil er und sein autoritäres Regime auf ihre Bürger, auf die öffentliche Meinung keine Rücksicht nehmen und auch keine Wahlen gewinnen müssen. Putin weiß sehr genau, dass hierzulande wahrscheinlich niemand für die Verteidigung der Ukraine sein Leben riskieren würde. Die meisten Polen hingegen würden es ohne Zweifel tun, weil auch für sie etwas auf dem Spiel steht.

Russland, wie schon die Sowjetunion, hat der Welt wenig zu bieten außer Waffen und Rohstoffen. Seine politischen Führer glauben, dass man mit Gewalt viel erreichen kann. Und leider fand dieser Glaube immer wieder eine Bestätigung, zuletzt in Tschetschenien, als das russische Militär Grosny zerstörte. Die Gewaltbereitschaft der russischen Staatlichkeit wird aber auch durch die Schwäche der Zivilgesellschaft begünstigt. Es gibt keine organisierten gesellschaftlichen Strukturen, die sich gegenüber dem Staat behaupten könnten. Im Grunde dienen in Russlands Armee Bauern, arme Menschen und Angehörige ethnischer Minoritäten, die sich ihrer Rekrutierung nicht widersetzen können. Die Generäle behandeln ihre Soldaten wie Kanonenfutter, weil sie offenbar glauben, dass einfach genug Soldaten nachkommen werden. Der russische Staat versteht Menschen als sein Eigentum, als Verfügungsmasse, die er nach Belieben für seine Ziele einsetzen kann.

Die Kriege in Tschetschenien und Syrien waren doch alles andere als militärische Erfolge. Die Armee zerstörte, was sie nicht erobern konnte und hinterließ verwüstetes Land. Von militärischer Effizienz kann nicht die Rede sein. Und auch in der Ukraine zeigt sich, dass Russlands Armee schlecht geführt wird. Ich befürchte, dass die russische Armee aus diesem Grund mit Charkiw, Kramatorsk oder Slowjansk genauso wie mit Mariupol verfahren wird.

Putin wird sich nicht geschlagen geben, weil er sich eine Niederlage nicht leisten kann. Die Folgen eines langwierigen Zerstörungs- und Vernichtungskrieges werden für Russland und die Ukraine verheerend sein. Jetzt kommt es darauf an, einen neutralen Vermittler zu finden, der einen Frieden aushandelt, von dem beide Seiten einen Gewinn haben. mehr Informationen

„Wenn Russland eine Weltmacht werden will, sollte es Schulen statt Panzer bauen.“ Yuval Noah Harari. Er lehrt Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem (Die ZEIT vom 21.4.2022).

„Putin hat mit seinem Überfall auf die Ukraine die Friedensordnung in Europa zertrümmert. Gewissheiten und Vereinbarungen, auf denen das freie und friedliche Leben von Millionen Menschen in Europa aufgebaut waren, sind zerstört“, sagte Christine Lambrecht, deutsche Bundesministerin der Verteidigung.

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