10 Jahre Arabischer Frühling

15.1.21 Auszüge der Einschätzung von Heinz Gstrein auf Livenet und Günter Meyer

Zum Besseren hat sich die Lage politisch in Tunesien, dem Sudan und dem syrischen Kurdistan gewandelt.

Sand ins Getriebe streut in Tunesien aber zunehmend das wirtschaftliche Unvermögen, die Lebensbedingungen der Massen übers Existenzminimum anzuheben. Die wenigen Evangelisch-Reformierten des Landes sehen sich damit den Juden bereits wieder als Sündenböcke angefeindet.

Ein positives Beispiel ist das selbstverwaltete kurdische, teils christlich-aramäische Nordostsyrien geworden. Es eifert dem Vorbild des autonomen irakischen Kurdistans nach.  Hier wie dort wird die demokratische Ordnung von den Christen entscheidend mitgetragen. Über beiden Autonomien hängt aber die ständige Gefahr türkischer Einfälle, da Erdogan eigenständige Kurdenstrukturen weder im Inneren der Türkei noch an ihren Grenzen zulassen will.

Seinen wichtigsten, aber späten Erfolg hat der Arabische Frühling seit 2019 in Sudan. Dort war seit 1989 unter Omar al-Baschir eines der übelsten Islamisten-Regime an der Macht. Heute findet in Khartum ein Übergang zur vollen Demokratie statt. Die Verfolgung aller Christen  gehört jetzt der Vergangenheit an. Aussenpolitisch krönte dieses Werk am 7. Januar der «Abraham-Vertrag» zur Aussöhnung mit Israel.

Im Übrigen hat das Erwachen der Araber wie in Ägypten neue Diktaturen hervorgebracht – oder in Syrien, Libyen und dem Jemen bis heute anhaltende Bürgerkriege ausgelöst. Als Folge der politislamischen Umfunktionierung des Arabischen Frühlings sieht sich Europa auch mit einem Terrorexport konfrontiert.

Für die Christen im Orient war der Arabische Frühling jedenfalls ein zweischneidiges Schwert. In Ägypten, wo mit den Kopten die meisten von ihnen als einzige in Millionenstärke leben, hatte sich der schon seit 1972 wuchernde Islamistenterror während der Herrschaft der Muslim-Bruderschaft 2012/13 gesteigert. Das verschlimmerte sich sogar noch nach der Machtergreifung von General Abdel Fattah al-Sisi: Die Brüder machten die koptischen Orthodoxen für Unterstützung des Militärregimes verantwortlich. Inzwischen hat sich die Lage weitgehend beruhigt.

Ägyptens Kopten, auch die Anglikaner und Freikirchen unter ihnen, dürfen wieder heute ihre gnädigste Zeit seit dem gemeinsamen Kampf mit den Muslimen für Befreiung von der britischen Herrschaft im frühen 20. Jahrhundert erleben. In Damaskus ist die Behauptung des Assad-Regimes zwar nicht unbedingt zu begrüssen, hat aber wenigsten die syrischen Christen vor ihrer völligen Vernichtung oder Vertreibung bewahrt. Gerade in den evangelischen Gemeinden beginnt der Wiederaufbau, wenn auch die erhoffte Rückkehr von Geflohenen auf sich warten lässt.

Im Irak hat sich die Zuflucht von Christen aus anderen Landesteilen ins autonome Kurdistan mit der Zurückschlagung des IS aus der Ebene von Niniveh bewährt. Aber auch in Bagdad, Basra und anderen Städten sind christliche Assyrer und Chaldäer, Baptisten oder Pfingstchristen heute nicht mehr das Freiwild für Islamisten und Kriminelle, das sie nach dem Sturz von Saddam Hussein 2003 jahrelang waren. Auch Israel hat der Arabische Frühling spürbare Entlastung gebracht, da seine Existenz und Expansion nicht mehr das Hauptthema aller Araber darstellen. Mehr Informationen

Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur arabischen Welt an der Universität Mainz, sagt: „Von der einstigen Euphorie und Aufbruchsstimmung des Arabischen Frühlings ist heute nichts mehr zu spüren.“

„Nur in Tunesien hat es eine dauerhafte Hinwendung zur Demokratie und Sicherung der Menschenrechte gegeben“, bilanziert der Experte. In allen anderen betroffenen arabischen Ländern – etwa Algerien, Jordanien und dem Irak – hätten sich Demokratie und Menschenrechte nicht weiterentwickelt. Teilweise habe sich die Situation sogar verschlechtert: In Libyen, Syrien und im Jemen toben Bürgerkriege, in denen gewaltsam gegen jegliche Opposition vorgegangen wird.

„Nach einer kurzfristigen Verbesserung hat sich auch in Ägypten die politische Lage durch die Machtübernahme des Militärs wieder verschärft. In Bahrain hat sich die politische Lage von Anfang an in Richtung eines wesentlich autokratischeren Vorgehens der herrschenden sunnitischen Minderheit gegenüber der schiitischen Mehrheit der einheimischen Bevölkerung verschlechtert“, sagt Meyer.

Und selbst in Tunesien – von westlichen Politikern gern als „Leuchtturm“ bezeichnet – herrscht in der Bevölkerung Unmut. „Das gravierendste Problem ist die schlechte wirtschaftliche Lage des Landes.

Dramatisch verschärft wird die Lage durch die Folgen von COVID-19, vor allem durch den Zusammenbruch des Tourismus.

Die erdgas- und erdölreichen Golfstaaten Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate sind von den Unruhen vor zehn Jahren verschont geblieben – denn die einheimische Bevölkerung wird von den Herrschern grosszügig am Reichtum des Landes beteiligt. Die Forderungen, die die Bürger in der arabischen Welt haben, sind dieselben geblieben: Arbeit, Freiheit, nationale Würde! mehr Informationen

Die Geschichte der Arabischen Aufstände noch lange nicht zu Ende, sagt der Nahost-Experte Carsten Wieland. Denn die Gesellschaften der Region hätten sich seitdem „radikal gewandelt“, auch in Ländern, die als stabil gälten. „Der Druck im Kessel ist nicht gewichen, der Druck wächst“, sagt Wieland, der früher als Diplomat für die UN-Syriengesandten. So spricht vieles dafür, dass es in der Region wieder zu Protestbewegungen kommt, auch in Staaten, die als stabil gelten.

Auf dem Korruptionsindex der Organisation Transparency International sind unter den letzten 20 Plätzen fünf Länder der arabischen Welt zu finden. Syrien ist Drittletzter, einen Rang hinter dem Jemen. Massendemonstrationen im Irak und im Libanon in den vergangenen Jahren richteten sich gegen die bestechliche politische Elite.

Unzählige Familien leben in der Region heute in ärmlichen Verhältnissen. Die UN-Behörde ESCWA errechnete, dass 250 von 400 Millionen Einwohnern in zehn arabischen Ländern als arm einzustufen oder von Armut bedroht sind. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch: In Tunesien, Jordanien, Ägypten, Algerien, Saudi-Arabien und dem Irak liegt sie laut Weltbank bei rund 30 Prozent.

Das größte ungelöste Problem sei eine fehlende wirtschaftliche Zukunft für die jungen Menschen, sagt der US-Nahost-Experte Kristian Coates Ulrichsen. „Das Gefühl wirtschaftlicher Ungerechtigkeit war Teil dessen, was die politischen Aufstände auslöste.“

Die Chancen, aus dieser Not auszubrechen, sind gering. Millionen Familien leben oft über Generationen am Existenzminimum. Viele schlagen sich ein Leben lang als Tagelöhner oder mit Jobs im informellen Sektor durch. Erschwerend kommt hinzu, dass die Bevölkerungen in den arabischen Ländern schneller wachsen als ihre Wirtschaften.

Die Region und ihre junge Bevölkerung – fast die Hälfte der Bewohner Nordafrikas und des Nahen Ostens ist jünger als 24 Jahre – sind auch von schlechten Bildungschancen geplagt. Nach UN-Angaben geht jedes fünfte Kind in Nordafrika und dem Nahen Osten nicht zur Schule.

Vor allem die Rivalität zwischen dem sunnitischen Königreich Saudi-Arabien und dem schiitischen Iran überschattet die Politik in vielen Ländern der arabischen Welt. Teheran verfügt über verbündete schiitische Milizen im Irak, in Syrien und im Libanon über starken Einfluss. Saudi-Arabien, die Emirate und Ägypten bekämpfen islamistische Bewegungen, die wiederum von der Türkei und Katar unterstützt werden.  mehr Informationen

Saudia Arabien versucht mit dem Projekt Neom eine neue Zukunft zu schaffen.

Neom – eine futuristische Wüstenstadt

Der Bau von Neom soll im ersten Quartal 2021 beginnen. Die Stadt soll ökologisch auf dem neusten Stand sein – 170 Kilometer lang, autofrei, ohne Straßen. 

Saudi-Arabien plant eine Ökostadt »mit null Autos, null Straßen und null CO2-Emissionen«. Kronprinz Mohammed bin Salman präsentierte das Projekt namens »The Line« am Sonntag 10.1.21 im staatlichen Fernsehen. Demnach sollen in der Stadt eine Million Menschen leben. »The Line« ist Teil des umstrittenen 500-Milliarden-Dollar-Projekts Neom am Rande des Roten Meeres, das der Kronprinz im Herbst 2017 vorgestellt hatte. Neom – eine futuristische Wüstenstadt weiterlesen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert