Der Liberalismus erstickt an seinen eigenen Idealen

Auszug von einem Artikel von Alexander Grau NZZ

Der Mensch der Moderne möchte Individuum sein. Was in früheren Jahrhunderten allenfalls ein paar Aristokraten und reichen Bürgern vorbehalten war, ein selbstbestimmtes, autonomes, exzentrisches Leben, ist heute ein Massenphänomen. Doch Emanzipationsmöglichkeiten erzeugen auch Emanzipationsstress.

Der emanzipierte Individualist unserer Gegenwart will sein Leben radikal autonom führen – und seine Sicht auf sich selbst ist die einzig wahre. Die Gesellschaft hat dabei Applaus zu spenden, besser noch Verehrung.

Denn in der Logik des sich selbst verwirklichenden Ichs ist nicht gespendeter Applaus eine Herabsetzung. Der Mensch der Wohlstandsmoderne will daher nicht nur toleriert, er will anerkannt werden, auch wenn die idiosynkratischen Produkte seiner Selbstverwirklichung noch so abseitig sind.

Der Like-Button wird zum Sinnbild einer Gesellschaft, in der das Individuum sich nicht damit begnügt, ein autonomes Leben zu leben, sondern Applaus für seinen Lebensstil möchte. Wer diesen Applaus vorenthält, macht sich des denkbar schlimmsten Vergehens in einer Selbstverwirklichungsgesellschaft schuldig: Er diskriminiert.

Das ist der Grund dafür, dass Diskriminierung auf der Skala sozialer Sünden mittlerweile einen Spitzenplatz einnimmt. Das Ergebnis ist das Diskriminierungsparadox: Das moderne Individuum möchte zwar als das Andere wahrgenommen werden, sonst wäre es ja nicht singulär; wer es jedoch wirklich anders als gewünscht anspricht, macht sich der Diskriminierung schuldig.

Die Zugehörigkeit zu einer Minderheit wird zum Beleg authentischen Selbstseins: Ich bin Minderheit, also bin ich. Als Produkt des modernen Individualismus übernimmt die Minorität auch dessen moralisches Überlegenheitsbewusstsein. In den Minoritäten und Subkulturen sammeln sich die Unangepassten und Nonkonformisten und damit die Vorkämpfer eines auch aus ethischer Sicht überlegenen Lebensstils. Seine ganz persönlichen Wünsche werden nun, ein Anliegen einer Minderheit und zu Minderheitenrechten geadelt.

Die Allgegenwart von Minderheitendiskursen in westlichen Gesellschaften hat somit nichts mit dem berechtigen Anliegen des Schutzes von Minderheiten zu tun. Vielmehr geht es darum, das Selbstinszenierungsbedürfnis des nach Sinn und Lebensinhalt suchenden Individuums auf die Ebene moralischer und schliesslich rechtlicher Ansprüche zu heben.

Unter den Bedingungen der Selbstverwirklichungsmoderne schlägt jedoch auch hier Aufklärung in ihr Gegenteil um: Die Minderheit wird nun zum positiven Wert, eben weil sie Minderheit ist.

War der Staat bis Ende des 20. Jahrhunderts Garant allgemeiner liberaler Grundrechte, so verwandelt er sich in der Minderheitengesellschaft zum Sachwalter des Schutzes von Minoritäten und Partialinteressen. Diese werden umgesetzt, indem der Staat allgemeine Bürgerrechte zurückschraubt: Er verordnet Quoten, greift so in das Eigentumsrecht oder das Wahlrecht ein und versucht, die Sprache zu reglementieren.

Es ergeben sich zwangsläufig Konflikte zwischen einander widerstreitenden Minderheitsidentitäten.

Dem Staat und überstaatlichen Institutionen kommt die Aufgabe zu, Konflikte zwischen konkurrierenden Minoritäten zu entschärfen.

Der Gedanken individueller Selbstbestimmung schlägt um in sein Gegenteil. Die daraus entstehenden Konflikte zwischen verschiedenen Minoritäten sind in einer pluralistischen Gesellschaft jedoch nur durch einen allmächtigen Regelungsstaat auflösbar.

Der Liberalismus erstickt an seinen eigenen Idealen.

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