Kampf der Geschlechter in Israel: Tel Aviv ist nicht Teheran

In Jerusalem fordern ultraorthodoxe Juden getrennte Räume für Männer und Frauen – in Bussen, Krankenhäusern oder sogar auf Friedhöfen. Rachel Azaria macht mit ihrem Kampf gegen Diskriminierung von Frauen Schlagzeilen.

Die 34 Jahre alte Mutter von drei Töchtern, die sich selbst als modern-orthodox bezeichnet, ist zur Gallionsfigur gegen die Diskriminierung von Frauen geworden. Ihr Aha-Erlebnis hatte Rachel Azaria im November 2008, als sie mit einer eigenen Liste für das Stadtparlament kandidierte. In Jerusalem stellen ultraorthodoxe Juden immerhin ein Drittel der Bevölkerung, seit Jahren regieren ihre Parteien die Stadt in wechselnden Koalitionen mit. Rachel Azaria plante, wie in Jerusalem üblich, Wahlplakate auf innerstädtische Busse der Gesellschaft „Egged“ kleben zu lassen. Sie hatte ihre Kampagne bereits mit dem zuständigen Mitarbeiter der Egged-Kooperative abgesprochen:

„Aber einen Moment, bevor er den Hörer auflegte, sagte er: ‚Sie wissen doch, dass in Jerusalem keine Bilder von Frauen auf Autobusse geklebt werden. Wer führt eure Wahlliste an?‘ Ich sagte: ‚Ich – eine religiöse Frau, verheiratet, Mutter mehrerer Kinder. Auf meinem Foto ist nur mein Gesicht zu erkennen, das ist ein anständiges Bild, ich trete nicht im Badeanzug an.‘ Aber er sagte mir: ‚Das spielt keine Rolle. Es gibt keine Bilder von Frauen auf Autobussen in Jerusalem.'“

In diesem Moment, sagte Rachel Azaria, begannen bei ihr die Alarmglocken zu läuten:“Ich war ziemlich schockiert, habe den Hörer aufgelegt und mir die Busse angeschaut, die vorbeifuhren. Auf den ersten Bussen waren Bilder von Kandidaten für den Stadtrat – alles Männer. Dann kam ein Bus mit einem Werbeplakat für die Allgemeine Krankenkasse: ‚Das Beste für die Familie‘ – mit einem Foto von Vätern und Söhnen. Das nächste Bild: Ein Bus mit Werbung für einen Hochzeitssaal. Ein gedeckter Tisch, ein Blumenstrauß, der Traubaldachin und der Bräutigam.“ Die Braut war auf dem Hochzeitsfoto nicht zu sehen.

„Und ich erinnere mich, dass ich total verblüfft war, denn es war mir noch nie aufgefallen, dass die Frauen verschwunden sind. Und dann dachte ich mir, wenn wir dieses Phänomen nicht bekämpfen, dann wird es dazu führen, dass wir alle Errungenschaften des Feminismus in den vergangenen beiden Generationen verlieren. Das lassen wir uns nicht bieten, sagte ich mir. Man kann uns Frauen nicht einfach aus dem öffentlichen Raum verbannen.“

Rachel Azaria klagte – und sie bekam Recht. Am Tag der Wahl klebte das Plakat mit ihrem Gesicht auf den Jerusalemer Bussen .Sie wurde in den Stadtrat gewählt und saß mit in der neuen Regierungskoalition, zuständig für kommunale Verwaltung und Kindertagesstätten. Doch ihr Kampf für Frauenrechte ging den Strenggläubigen sehr bald zu weit. Die nächste Kraftprobe kostete sie ihr Amt.

Zum Laubhüttenfest Sukkot im Herbst 2011 hatten Ultraorthodoxe in ihrem Viertel Mea Shearim eine 1,80 Meter hohe Trennwand mitten auf der Straße aufgestellt und separate Bürgersteige für Männer und Frauen abgesteckt. Wieder klagte Rachel Azaria, das Oberste Gericht gab ihrer Klage statt – doch sofort darauf enthob der Jerusalemer Bürgermeister Nir Barkat die Stadträtin ihres Amtes. Diskret und ohne Konsequenzen, wie er dachte. Aber der Vorfall machte Schlagzeilen und Rachel Azaria wurde zum Vorbild für viele:

„Auf einmal hat der Staat Israel verstanden, was mir drei Jahre vorher klar geworden war: Und heute ist allen klar, dass es verboten ist, Männer und Frauen zu trennen, dass es verboten ist, Frauen aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Also würde ich im Nachhinein sagen, dass mein Opfer es wert war.“

Im Dezember 2011 kochte das Thema in den israelischen und auch internationalen Medien erneut hoch. Der liberale Rabbiner Uri Regev, der in Jerusalem das Zentrum „Chiddusch“ für Religionsfreiheit und Gleichheit leitet, erinnert sich daran, wie ein achtjähriges Mädchen aus der Stadt Beit Schemesch auf dem Schulweg angespuckt wurde, weil sie angeblich nicht anständig gekleidet war:

„Was mich erschüttert hat und viele andere in Israel, das war die Geschichte von Naama Margolis. Ein ultraorthodoxer Extremist warf ihr vor, unzüchtige Kleidung zu tragen und ihn damit sexuell zu reizen. Das Ironische daran ist natürlich, dass die Familie Margolis selbst eine orthodoxe Familie ist.“

Seitdem hat der Kampf um die Rechte der Frauen an Fahrt gewonnen. Doch der Kampf ist lang und mühselig. Geschlechtertrennung ist längst nicht mehr nur eine Frage, die in Bussen eine Rolle spielt.

An der Klagemauer in der Jerusalemer Altstadt gibt es bereits seit Jahrzehnten getrennte Bereiche. Während für die Männer die linke Seite der Mauer reserviert ist, werden die Frauen zum Beten in den wesentlich kleineren rechten Bereich abgedrängt. Kritiker sagen, die Klagemauer sei in eine riesige orthodoxe Synagoge verwandelt worden.

Selbst in Krankenhäusern und einigen Supermärkten ultraorthodoxer Juden werden Frauen und Männer mittlerweile separiert. Und sogar vor Friedhofstoren macht die Geschlechtertrennung nicht Halt. Frauen wird untersagt, Grabreden zu halten, oder sie dürfen nicht am Trauerzug teilnehmen. Die Anwältin Orly Erez-Likhovski, selbst eine religiöse Jüdin, musste dies im Freundeskreis miterleben: „Ich war einmal bei einer Beerdigung der Mutter einer engen Freundin, der nicht erlaubt wurde, am Grab ihrer Mutter zu stehen während der Beerdigung. Einfach, weil sie eine Frau ist. Das ist illegal, aber es passiert trotzdem.“

Immer stärker ist auch das vermeintlich säkulare Israel betroffen: Extreme Ultraorthodoxe drohen mit einem Boykott der staatlichen Fluggesellschaft El Al, sollten sie keine getrennten Bereiche für Männer und Frauen anbieten. Rabbiner machen Druck, damit bei Feierlichkeiten der Armee keine singenden Frauen zu hören sind – ihre Stimmen klingen anstößig in den Ohren der Strenggläubigen. Unlängst wurde bei der feierlichen Vereidigung der Knesset, dem israelischen Parlament, dem gemischten Chor aus Frauen und Männern die Mitwirkung untersagt, als die Nationalhymne gespielt wurde.

Warum das alles? Die Jerusalemer Stadträtin Rachel Azaria sieht eine der Ursache in der Angst der ultraorthodoxen Gesellschaft vor Veränderung. Das Gesetz, das Studenten ultraorthodoxer Religionsschulen automatisch vom Militärdienst befreit, wurde unlängst vom Obersten Gericht für illegal erklärt. Und: Die Zahl der Ultraorthodoxen wächst stetig, und sie sind zunehmend gezwungen, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Vor allem Frauen, die den Lebensunterhalt für die Familie verdienen, während ihre Männer die Tora studieren:

„Früher haben sie nur in orthodoxen Erziehungseinrichtungen gearbeitet und wenig verdient. Das hat sich geändert, die Frauen arbeiten in der Hightech-Branche und in Regierungsbüros, und sie kommen nach Hause und sind viel stärker als die Männer. Und wie kann man die Frau auf ihren Platz verweisen? Indem man darüber spricht, dass es unheilig sei, mit Frauen zusammen zu sein, und indem man die Frauen kleinmacht.“

Uri Regev: „In der ganzen Welt gibt es eine religiöse Radikalisierung, im Islam und auch im Christentum. Aber das Besondere bei den Ultraorthodoxen in Israel ist ihre politische Fähigkeit, Druck auszuüben und das systematische In-die-Knie-gehen der politischen Systeme. Wenn man den Ultras Grenzen setzt, sind sie viel flexibler, als sie dich glauben machen möchten.“

Davon ist der liberale Rabbiner Uri Regev fest überzeugt. Viele säkulare Israelis haben Angst davor, dass die Ultraorthodoxen mit ihrer hohen Geburtenrate eines Tages die gesamte politische Tagesordnung in Israel bestimmen könnten – Geschlechtertrennung inklusive. „Tel Aviv ist nicht Teheran“ – dieser Ruf erklingt immer wieder bei Demonstrationen gegen den wachsenden Einfluss der Ultraorthodoxie.

Doch Rabbiner Uri Regev ist optimistisch: Durch entsprechende Gesetze könne der Staat einiges bewirken, sagt er. Vor allem müsse in Israel, einem Staat ohne grundlegende Verfassung, die Trennung von Staat und Religion und die Gleichberechtigung der Geschlechter gesetzlich verankert werden. Auch Maßnahmen wie die Kindergeldkürzung aus dem Jahr 2003 könnten einiges bewirken:

„In den vergangenen zehn Jahren ist die durchschnittliche Kinderzahl einer orthodoxen Familie von 7,5 auf 6,5 gesunken. Je mehr orthodoxe Frauen arbeiten und je weniger der Staat die Orthodoxen unterstützt, desto mehr wird das den Umfang der Familien beeinflussen.“ Rachel Azaria: „Die Orthodoxen werden hier niemals die Mehrheit sein. So, wie sie jetzt leben, können sie nur in einer kleinen und geschlossenen Gesellschaft existieren.“

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