Der arabische Kulturraum zerbricht

So gut wie alle Hoffnungen vom Arabischen Frühling sind zerstoben. Eine jahrtausendealte Multikultur droht zugrunde zu gehen.

Der „Islamische Staat“ ist ein Gegenmodell zur kulturell-religiösen Pluralität der eingesessenen Zivilisationen im Nahen Osten. Jeder, der nicht zum Kreis der wahren Gläubigen gehört oder die Regeln des Islam missachtet, besudelt nach dieser Doktrin das reine Territorium der gottgefälligen Muslime, provoziert den Zorn Allahs und muss vom Antlitz der Erde getilgt werden. „Ich verspreche euch nicht, was andere Herrscher ihren Untertanen versprechen: keine Sicherheit, keinen Wohlstand. Nein, ich verspreche euch, was Allah den Gläubigen im Koran versprach – dass Er sie zu seinen Stellvertretern auf Erden werden lässt“, schmeichelte der selbsternannte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi bei seinem bisher einzigen öffentlichen Auftritt in Mossul den Zuhörern. Seine Anhänger gebärden sich als von Gott autorisierte Exekutoren.

Das Kriegshandwerk lernten die Horden des „Islamischen Kalifates“ im Dschungel des syrischen Bürgerkriegs, ihre fähigsten Ausbilder kommen aus Tschetschenien. Rund 15.000 Muslime aus 80 Nationen kämpfen derzeit in ihren Reihen. Ihr Kalaschnikow-Islam wird das Gesicht des Orients so entstellen, dass es nicht mehr wieder zu erkennen ist.

Alle, die von einer ausländischen Verschwörung faseln, verdrängen die Wahrheit. Saudi-Arabien produziere IS-Rekruten wie am Fließband. Ideologisch zählen die IS-Krieger zur salafistisch-wahabitischen Lesart des Islam, die ihre geistigen Wurzeln auf der Arabischen Halbinsel hat. Deren Treiben zieht inzwischen eine Spur der Verwüstung durch den gesamten Orient. In Ägypten und Tunesien zerstörten Extremisten mindestens 70 Sufi-Stätten. In Libyen demolierten sie reihenweise islamische Heiligtümer, Friedhöfe und römische Statuen. In Syrien und Irak machten IS-Eiferer 50 Gotteshäuser dem Erdboden gleich, darunter auch das berühmte Mausoleum des Propheten Jonas in Mossul.

Genauso gefährdet sind die vorislamischen Schätze Syriens und Mesopotamiens. Statuen und Mosaike werden gezielt zertrümmert, andere Exponate nur geschont, um mit ihrem Verkauf die Kriegskasse zu füllen. Der Syrienkenner und Bostoner Archäologe Michael Danti schätzt, dass nach den Ölverkäufen der Antikenraub die zweitwichtigste Einnahmequelle der Dschihadisten ist.

Eine moderne Vorstellung vom mündigen Staatsbürger existiert im muslimischen Orient nicht. So konstatiert der libanesische Publizist Rami G. Khouri einen „katastrophalen Kollaps der existierenden arabischen Staaten„. Das ölreiche Libyen versinkt in der Unregierbarkeit. Mehr als 200 bewaffnete Milizen kämpfen um die Kontrolle. Im bettelarmen Jemen, dem ersten Staat der Welt, dem bald das Trinkwasser ausgehen könnte, belagern schiitische Houthi-Milizen die Hauptstadt Sanaa. Syriens Bashar al-Assad führt jetzt schon jahrelang Krieg gegen seine eigenen Landsleute.

Das Wüten der Kalifatskrieger hat auch den Islam als Quelle von Ethos und Staatsdenken in die schwerste Legitimationskrise seiner modernen Geschichte gestürzt. Gilt das Tötungsverbot oder gilt es nicht? Sind Selbstmordattentäter Massenmörder oder Aspiranten für das Paradies? Ist das Abschlagen von Kopf und Gliedmaßen, das Auspeitschen bei religiösen Verstößen Lehre des Islam oder nicht? Warum ist der Eintritt in den Islam frei, der Austritt dagegen nach der Scharia mit dem Tode bedroht? Warum dürfen Nicht-Muslime nicht nach Mekka und Medina? Warum dürfen Christen auf dem Boden von Saudi-Arabien, dem Ursprungsland des Islam, keine Kirchen bauen und noch nicht einmal Gottesdienst feiern?

Die Islamisten haben im Prinzip nichts Neues erfunden. Sie haben schlicht die Inhalte des gängigen Islamverständnisses überspitzt und radikalisiert“, urteilte der Palästinenser Ahmad Mansour, Mitglied der Islamkonferenz in Deutschland, in einem Beitrag für den „Spiegel“. Ihre Haltung zum Umgang mit „Ungläubigen“, ihre Haltung zur Umma, zur religiösen Gemeinschaft der Muslime, oder zur Rolle von Mann und Frau unterscheide sich „nur graduell, nicht prinzipiell“. Und so verdankten die radikalen Strömungen ihre Gefährlichkeit nicht so sehr der Differenz zum „normalen“ Islam als vielmehr der Ähnlichkeit.

Kein Wunder, dass angesichts dieser systematischen Unschärfe zwischen normal und radikal niemand mehr überzeugend erklären kann, wie das moralische Fundament des Islam und seine Anthropologie eigentlich aussehen. Eine breite innermuslimische Debatte zu den geistigen Wurzeln der Radikalen findet kaum statt.

Der saudische Obermufti brauchte geschlagene zwei Monate bis er IS öffentlich verurteilte und als „Feind Nummer eins des Islam“ abkanzelte. Zwei Jahre zuvor dagegen hatte der 71-Jährige noch selbst in einer Fatwa gefordert, den Bau christlicher Kirchen auf der arabischen Halbinsel zu verbieten und bereits existierende Kirchen zu zerstören.

Die überwältigende Mehrheit der friedliebenden Muslime muss sich der Frage stellen, welche Faktoren den beängstigenden Entwicklungen in der eigenen Religionsgemeinschaft zugrunde liegen. Nur auf Fehler, Versäumnisse und Schuld zu verweisen, die außerhalb der islamischen Kultur liegen, greift zu kurz. Die Transformation der Köpfe und Herzen kann keine ausländische Macht herbeiführen.

„Wir Araber sollten uns nichts vormachen“, bilanzierte Hisham Melhem, einer der ganz wenigen selbstkritischen arabischen Stimmen und Studioleiter des Senders „Al Arabiya“ in Washington. „Die arabische Zivilisation, die wir gekannt haben, ist so gut wie verschwunden.“

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3 Gedanken zu „Der arabische Kulturraum zerbricht“

  1. @Hanspeter: DU, der Du Dich ernstlich auskennst, kann es tatsächlich eine revolutionierende Neufassung des Islam geben, OHNE den Kern der Glaubenslehre zu zerstören? – Also, die Lehre zur Beliebigkeit verkommen zu lassen, wie es die christliche Theologie des letzten Jahrhunderts getan hat? Ich kann das nach der Lektüre des Koran und mancher Hadith nicht erkennen. Zu WAS könnten denn „Köpfe und Herzen“ transformiert werden. Die Selbstbestimmtheit des Individuums oder eine Form der „Duldsamkeit“ des Rechtgläubigen gegenüber dem „Andersgläubigen“ ist doch nicht mal ansatzweise im von Allah offenbarten Weltverständnis vorhanden?!! (um mal zwei Begriffsfelder heraus zu greifen).

    1. Sehr geehrter Herr Oelmann
      sie erwähnten in ihrem Beitrag, dass die CHRISTLICHE LEHRE ZUR BELIEBIGKEIT VERKOMMEN IST.
      Darf ich sie bitten, mir einige Fakten zu diesem Statement zukommen zu lassen.
      Gemäss dieser sehr dezidierten Aussage müssten sie ein Kenner der Situation der christlichen Theologie und deren Auswirkungen sein. Als Laie bin ich dankbar um jeden Augenöffner. Mit freundlichen Grüssen D. Gut

  2. Jede Religion wird von den Mitgliedern individuell interpretiert und gelebt. Die Reformation hat die Ostkirche und Katholische Kirche auch nicht verändert. Genauso gibt es im Islam unterschiedliche Formen. Die Frage ist, welcher Interpretation die Mehrheit der Muslime sich verpflichtet fühlt. Es könnte ja auch eines Tages so werden, dass Muslime sich genauso wenig ihrem Buch verpflichet fühlen, wie es viele Christen tun.

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